15.03.2023: Interpellation «Umstellung auf ein nachhaltiges Ernährungssystem: Wie nutzt der Kanton Bern seinen Handlungsspielraum?»
Das heutige Ernährungssystem ist nicht nachhaltig. Es überschreitet die Belastbarkeitsgrenzen der Erde, verursacht bedeutende Treibhausgasemissionen, trägt massgeblich zu den steigenden Gesundheitskosten bei und ist ein entscheidender Faktor für den Rückgang der Artenvielfalt. Es ist Treiber von Krisen, insbesondere des Klimawandels, und gefährdet damit die Ernährungssicherheit – auch in der Schweiz.
Das wissenschaftliche Gremium «Ernährungszukunft Schweiz» hat mit der Publikation «Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz – Leitfaden zu den grössten Hebeln und politischen Pfaden für ein nachhaltiges Ernährungssystem»(1) Handlungsempfehlungen erarbeitet, die aufzeigen, wie das Schweizer Ernährungssystem unter Berücksichtigung der Bedürfnisse u. a. der Konsument:innen und der Landwirtschaft nachhaltiger gestaltet werden kann, um den eingangs erwähnten Problemen zu begegnen. Am 2. Februar 2023 wurde der Leitfaden im Rahmen des Schweizer Ernährungssystemgipfels(2) zusammen mit Empfehlungen eines Bürger:innenrats an die Politik übergeben.
Das im Leitfaden gezeichnete Leitbild beinhaltet zum einen eine bedeutende Umstellung des Nahrungsmittelkonsums hin zu einer pflanzenbetonten Ernährung, welche im Vergleich zu heutigen Konsummustern in der Schweiz u. a. eine starke Reduktion des Fleisch-, Milchprodukte- und Eierkonsums bedeutet. Der wissenschaftliche Leiter des Gremiums spricht von einer Halbierung des Fleischkonsums und fast einer Halbierung des Konsums von Milchprodukten und Eiern bis 2030.(3)
Produktionsseitig sieht das Leitbild u. a. eine Priorisierung der Nahrungsmittelproduktion auf Ackerflächen vor (also einen minimierten Anbau von Futtermitteln auf Ackerflächen, unter Berücksichtigung der Fruchtfolge). Die Milchproduktion wird auf nicht für den Ackerbau geeigneten Dauergrünlandflächen priorisiert. Die Tierbestände werden insgesamt reduziert, insbesondere die Geflügel- und Schweinehaltung.
Mit dem vorliegenden Vorstoss möchte der Interpellant eruieren, wie sich der Regierungsrat zu den Erkenntnissen und Empfehlungen der Wissenschaft stellt und welche Massnahmen er in den nachfolgend genannten Bereichen zu ergreifen gedenkt. Die Interpellation zielt bewusst nicht auf den kantonalen Vollzug allfälliger auf Bundesebene beschlossener Massnahmen, mit denen die wissenschaftlichen Empfehlungen umgesetzt werden sollen. Dies zumal zwar Bundesrat Parmelin am Ernährungssystemgipfel sagte, die Empfehlungen deckten sich mit der zukünftigen Ausrichtung der Agrarpolitik, die der Bundesrat letzten Sommer verabschiedete,(4) aber angesichts der jüngsten Entscheide des Nationalrats(5) nicht zu erwarten ist, dass das Bundesparlament dieser Ausrichtung folgt – geschweige denn den viel ambitionierteren Empfehlungen der Wissenschaft.
Verpachtung von kantonseigenem Land: Der Kanton Bern tritt als Verpächter von Landwirtschaftsflächen resp. Landwirtschaftsbetrieben auf. In dieser Rolle kann er Pachtverträge abschliessen, die darauf ausgerichtet sind, einen Beitrag zur Umstellung auf ein nachhaltiges Ernährungssystem zu leisten.
Führung von Landwirtschaftsbetrieben durch den Kanton: Der Kanton Bern führt Landwirtschaftsbetriebe, darunter jenen in der Justizvollzugsanstalt Witzwil, der mit 825 ha der grösste der Schweiz ist, und jenen im Massnahmenzentrum St. Johannsen. Der Kanton Bern bestimmt, wie und was in diesen Landwirtschaftsbetrieben produziert wird.
Gemeinschaftsgastronomie: Der Kanton Bern betreibt Kantinen oder beauftragt Dritte mit deren Betrieb. In dieser Rolle kann er das Angebot in den Kantinen bestimmen oder Vorgaben für das Angebot machen.
Subventionen: Basierend auf der Verordnung über Produktion und Vermarktung in der Landwirtschaft(6) richtet der Kanton Unterstützungsbeiträge für den Schlachtviehabsatz, vulgo: Schlachtviehmarktsubventionen, in Millionenhöhe aus. Mit dieser Subvention nimmt er indirekt Einfluss auf die Produktion.
Ernährung und Kochen im Schulunterricht: An Bernischen Schulen findet Unterricht im Kochen und in der Ernährungslehre statt. Der Unterricht prägt die Kochkompetenzen und das Ernährungswissen mit. Die Schulverlang plus AG gibt mit «Tiptopf» und «Greentopf» Lehrmittel für diesen Unterricht heraus. Während «Greentopf» ein neueres Produkt ist, welches spezifisch auf vegane und vegetarische Rezepte aus aller Welt fokussiert, ist «Tiptopf», wenngleich es immer weiter entwickelt wird, traditionell orientiert und eher tierproduktlastig.
Der Regierungsrat wird um Beantwortung folgender Fragen gebeten:
- Teilt der Regierungsrat die Analyse aus der Wissenschaft, dass das Schweizer Ernährungssystem verändert werden muss und kann, insbesondere um die Ernährungssicherheit auch in Zukunft zu gewährleisten und dem Anstieg der Gesundheitskosten entgegenzuwirken?
- Ist der Regierungsrat gewillt, im Rahmen seiner Zuständigkeit bzw. der Zuständigkeit des Kantons Bern den Handlungsempfehlungen der Wissenschaft nachzukommen und die entsprechenden Massnahmen zu ergreifen, um insbesondere auf eine deutliche Senkung der Produktion und des Konsums tierischer Nahrungsmittel hinzuwirken?
Verpachtung von kantonseigenem Land
- Welche Landwirtschaftsbetriebe und Landwirtschaftsflächen verpachtet der Kanton Bern zurzeit? Wie lange laufen die aktuellen Pachtverträge? Besitzt der Kanton Bern weitere Landwirtschaftsflächen oder -betriebe, die verpachtet werden könnten?
- Inwiefern nutzt der Kanton Bern bereits heute via Pachtvertrag seine Einflussmöglichkeiten, um auf ein nachhaltiges Ernährungssystem im Sinne des oben erwähnten Leitbilds hinzuwirken?
- Welche Massnahmen, die auf ein nachhaltiges Ernährungssystem hinwirken, könnte der Kanton Bern vertraglich mit der Pächterschaft vereinbaren (z. B. Vorgaben zur Senkung des Tierbestands oder zur Nutzung von Hilfsmitteln wie mineralischen Düngern oder Pestiziden)? Könnte der Kanton Bern im Sinne eines Anreizes den Pachtzins vorübergehend senken unter der Bedingung, dass die Pächterschaft solche Massnahmen umsetzt?
Führung von Landwirtschaftsbetrieben durch den Kanton
- Welche Landwirtschaftsbetriebe führt der Kanton Bern selbst? Welche Nahrungsmittel werden dort hergestellt? Wie viele Tiere je Gattung werden pro Landwirtschaftsbetrieb gehalten? Welche Fläche weisen die Landwirtschaftsbetriebe jeweils auf?
- Inwiefern entspricht die Produktion in diesen Landwirtschaftsbetrieben einem nachhaltigen Ernährungssystem im Sinne oben erwähnten Leitbilds? Welche Massnahmen sieht der Regierungsrat vor, um die vom Kanton Bern geführten Landwirtschaftsbetriebe hierauf auszurichten?
- Welche Anpassungen der Produktionsanlagen in diesen Landwirtschaftsbetrieben sind zurzeit in Ausführung, geplant oder angedacht? Richtet der Kanton Bern die in den von ihm geführten Landwirtschaftsbetrieben anstehenden Investitionen auf eine Reduktion des Tierbestands, insbesondere des Bestands an Schweinen und Geflügel, aus?
Gemeinschaftsgastronomie
- Welche Kantinen oder sonstigen gemeinschaftsgastronomischen Betriebe (in Verwaltungsgebäuden, Schulen und Hochschulen oder anderen kantonalen Institutionen) werden vom Kanton Bern selbst betrieben? In welchen beauftragt er Dritte mit dem Betrieb und wie schnell könnten die Aufträge geändert werden?
- Inwiefern entsprechen Angebot und Konsum in den vom Kanton Bern selbst betriebenen Kantinen einem nachhaltigen Ernährungssystem im Sinne oben erwähnten Leitbilds? Inwiefern entsprechen Angebot und Nachfrage in Kantinen, die im Auftrag des Kantons Bern Betrieben werden, einem nachhaltigen Ernährungssystem?
- Welche Massnahmen könnte der Kanton Bern ergreifen, um das Angebot in Einklang mit einem nachhaltigen Ernährungssystem zu bringen (z. B. Reduktion tierischer Nahrungsmittel, die Auswahl an vegetarischen oder veganen Speisen vergrössern)?
Subventionen
- Wird mit den Schlachtviehmarktsubventionen auch der Absatz von Schlachtvieh gefördert, welches mit Futter ernährt wurde, das in Konkurrenz zur Produktion von Nahrungsmitteln für den Menschen auf Ackerflächen produziert wurde? Wird der Absatz von Schlachtvieh gefördert, das auf Flächen weidete, auf welchen stattdessen Nahrungsmittel für den Menschen hätten produziert werden können?
- Ist zu erwarten, dass die Tierproduktion ohne die Schlachtviehmarktsubventionen zurückgehen würde? Wie könnten die Bedingungen für den Erhalt von Schlachtviehmarktsubventionen angepasst werden, um diese Subvention in Einklang mit einem nachhaltigen Ernährungssystem im Sinne obigen Leitbilds zu bringen (z. B. Beschränkung der Beitragsberechtigung auf Schlachtviehproduktion, die nicht in Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion steht)?
- Richtet der Kanton Bern weitere Beträge oder Subventionen an Landwirtschaftsbetriebe oder Tierproduktionsbetriebe aus? Wenn ja, welche sind es und wie wirken sie sich auf die Tierproduktion aus?
Ernährung und Kochen im Schulunterricht
- Welche Lehrmittel werden an den Schulen des Kantons Bern im Bereich Kochen und Ernährung tatsächlich eingesetzt? Wird jeweils die neuste Auflage eingesetzt? Wer entscheidet über die Wahl des Lehrmittels: die Schule, die Lehrperson oder jemand anderes?
- Wirkt der Kanton Bern darauf hin, dass die Auswahl der im Unterricht geübten Rezepte in Einklang mit einem nachhaltigen Ernährungssystem im Sinne obigen Leitbilds ausfällt?
- Ist der Regierungsrat der Ansicht, dass die Schulverlag plus AG ein für den Wandel hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem dienliches Signal setzt, indem sie ein eigenes Lehrmittel für vegetarische und vegane Rezepte («Greentopf») herausgibt, welches diese Rezepte als etwas Ungewöhnliches, nicht der Norm Entsprechendes markiert?
- Im Kapitel «Gebäck Süss» der neusten «Tiptopf»-Auflage findet sich kein einziges veganes Rezept. Im Kapitel «Desserts» findet sich kein bei Schüler:innen konkurrenzfähiges veganes Rezept.(7) Wie stellt der Regierungsrat sicher, dass im Unterricht Möglichkeiten zur Reduktion tierischer Nahrungsmittel in Süssspeisen vermittelt werden?
- Warum wird die vegane Ernährung in der neusten «Tiptopf»-Auflage als «Gemüse und Obst» dargestellt, obschon sie auch Nüsse, Samen, Getreide, Hülsenfrüchte und daraus hergestellte Produkte beinhaltet?(8) Warum wird darauf hingewiesen, dass Soja für den direkten menschlichen Konsum oft in «fernen Ländern» angebaut werde,(9) obwohl erstens viel mehr Soja für die Tiermast importiert wird als für den direkten menschlichen Konsum und zweitens das Soja für den direkten menschlichen Konsum in der Regel aus Europa stammt? Wieso fehlt ein entsprechender Hinweis auf importiertes Soja für die Tiermast beim Fleisch?
- Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE) wird unter anderen von diversen Organisationen gesponsert, die ihr Geld mit tierischen Nahrungsmitteln verdienen oder sich für einen hohen Absatz tierischer Produkte einsetzen.(10) Fliessen Empfehlungen der SGE direkt oder indirekt in die Rezeptauswahl oder den Theorieteil von «Tiptopf» ein?(11) Haben erwähnte Sponsoren anderweitig Einfluss auf den Inhalt von «Tiptopf»?
(1) Vgl. https://sdsn.ch/wp-content/uploads/2023/02/Fesenfeld_etal_SDSN_Leitfaden_Ernaehrungszukunft.pdf.
(2) Vgl. https://ernaehrungs-zukunft.ch/.
(3) Vgl. https://www.bernerzeitung.ch/nur-noch-halb-so-viel-fleisch-deutlich-weniger-eier-und-milchprodukte-794641498594.
(4) Vgl. beispielsweise https://www.schweizerbauer.ch/politik-wirtschaft/agrarpolitik/abgaben-steuern-umverteilung-was-der-leitfaden-fuer-bauern-bedeutet/.
(5) Vgl. beispielsweise https://www.srf.ch/news/schweiz/agrarpolitik-im-nationalrat-nationalrat-gegen-neue-klimaziele-in-der-agrarpolitik.
(6) Siehe https://www.belex.sites.be.ch/app/de/texts_of_law/910.111.
(7) Folgende vegane Rezepte finden sich im Kapitel «Desserts»: Fruchtsalat, Melonensalat, Apfelmus, gebrannte Mandeln. (Zudem werden, anders als in den meisten anderen Kapiteln, vegetarische Rezepte nicht gekennzeichnet, obwohl diverse Rezepte wegen der Zutat Gelatine nicht vegetarisch sind.)
(8) Vgl. Darstellung auf S. 20.
(9) Vgl. Ausführungen auf S. 33.
(10) Vgl. https://www.sge-ssn.ch/die-sge/links/goenner/. Unter den Sponsoren finden sich: Proviande, Switzerland Cheese Marketing, swissmilk und swissmoh.
(11) In der gerade neu erschienenen 1. Auflage 2023 findet sich auf S. 19 ein Hinweis auf Ernährungsempfehlungen der SGE.
Titel: Umstellung auf ein nachhaltiges Ernährungssystem: Wie nutzt der Kanton Bern seinen Handlungsspielraum?
Art des Vorstosses: Einzelinterpellation
Sprecher: Casimir von Arx
Status der Bearbeitung & version française: siehe Website des Grossen Rates (falls dieser Direktlink nicht mehr funktioniert, bitte direkt auf der Seite des Grossen Rates unter www.gr.be.ch suchen; der Vorstoss trägt in der Systematik des Grossen Rates die Geschäftsnummer «2023.RRGR.106»)