
03.08.2022: Interpellation «Ein alter Zopf muss weg – Überführung der Burgerrodel ans bernische Staatsarchiv»
Am 9. September 1822 verordneten Schultheiss und Rat der Stadt und Republik Bern die flächendeckende Einführung von Burgerrodel.(1) Dabei handelt es sich um durch die Burgergemeinde des Heimatsorts angelegte Familienverzeichnisse. Sie geben Auskunft über den Heimatort, Vor- und Familienname sowie Geburts‑, Tauf-, Heirats-, Todes- und Beerdigungsdaten. Im Gegensatz zu den chronologisch geführten Kirchenbüchern, welche die durch die Kirche angelegten Tauf-, Ehe- und Totenregister umfassen, sind die Burgerrodel nach Familiennamen sortiert. Da jeweils auch die Kinder der Blattinhabenden miterfasst werden, können mit Hilfe der Burgerrodel familiäre Bindungen aufgezeigt werden, die ansonsten für jede Person einzeln in mühsamer Detektivarbeit aus den Kirchenbüchern rekonstruiert werden müssen.
Im Jahr 1874 wurde die Schweizer Bundesverfassung totalrevidiert. Im Zuge dieser Totalrevision wurde auch die Kompetenz, den Zivilstand zu beurkunden, auf die neu geschaffenen Zivilstandsämter übertragen. Mit dem am 24. Dezember 1875 eingeführten Bundesgesetz über den Zivilstand und die Ehe wurden die Kantone aufgefordert, sämtliche Akten, die sich auf den Zivilstand beziehen, an die neuen Zivilstandsämter zu übergeben. Im August desselben Jahres forderte daher die Justiz- und Polizeidirektion des Kantons Bern die kirchlichen Behörden dazu auf, ihre Kirchenbücher nachzuführen und per 1. Januar 1876 an den Kanton abzuliefern – dies natürlich nicht ohne beachtlichen Widerstand.(2)
Rund 50 Jahre später, im Jahr 1929, verordnete der Bund die Einführung eidgenössischer Familienregister, welche durch das Zivilstandsamt der Heimatgemeinde geführt werden sollten. Auf Empfehlung des Bundes sollten Vorgängerregister an die zuständigen Zivilstandsämter abgeliefert werden.(3) Mit der Einführung der neuen Zivilstandsordnung vom 1. Januar 2000 wurden die teilweise noch nachgeführten Burgerrodel endgültig stillgelegt.(4) Schliesslich erliess das Eidgenössische Amt für das Zivilstandswesen am 1. November 2016 eine Weisung zu den in Papierform geführten Zivilstandsregistern.(5) Darin wird festgehalten, dass die bei den Zivilstandsämtern gelagerten Papierregister durch ihre faktische Weiterführung seit der Übergabe nicht als historisches Archivgut, sondern als integrierender Bestandteil des Familienregisters angesehen werden. Sie werden daher dem Familienregister rechtlich gleichgestellt und unterliegen denselben Datenschutzbestimmungen. Gleichzeitig hält die Weisung aber auch fest, dass Kantone ihre Papierregister nach Ablauf der gesetzlichen Fristen an die kantonalen Staatsarchive übergeben können. Für diese Register gilt ab dem Zeitpunkt der Übergabe das kantonale Datenschutzrecht.(6) Bis heute ist eine solche Übergabe im Kanton Bern aber leider nicht erfolgt.
Gemäss Art. 47, Art. 60 und Art. 92b Abs. 4 ZStV, Art. 11 Abs. 1 Bst. d OrV SID(7) und einem Merkblatt der SID(8) ist die Einsichtnahme in die Bürgerregister und Burgerrodel des Kantons Bern, welche auf den Zeitraum zwischen 1876 und 1928 datieren, auch für Forschende bewilligungspflichtig. Alle Dokumente, deren Blatteröffnung vor 1876 erfolgte, können hingegen bewilligungsfrei eingesehen werden. Aufsichts- und Bewilligungsbehörde zur Einsichtnahme in entsprechende Register ist der Zivilstands- und Bevölkerungsdienst im Amt für Bevölkerungsdienste. Für die Prüfung und Bewilligung des jeweiligen Gesuchs fallen nach Anhang 2 Ziffer I.5 ZStGV(9) Gebühren in der Höhe von 100 bis 150 Franken für die forschende Person an. Die Einsichtnahme erfolgt anschliessend beim Zivilstandsamt des betroffenen Bürgerorts.
Da die beim Zivilstandsamt gelagerten Burgerrodel als Vorgängerregister der heutigen Familienregister angesehen werden, unterstehen sie dem kantonalen und dem nationalen Datenschutzrecht. Für Burgerrodel aus dem gleichen Zeitraum, die sich bis heute im Besitz der jeweiligen Burgergemeinde befinden, gelten diese Datenschutz-Regulierungen hingegen nicht. Das führt zu einer rechtlichen Ungleichbehandlung. Als Beispiel können hier die Burgerrodel von Bern genannt werden, die sich teils im Besitz des Staatsarchivs des Kantons Bern, teils der Burgergemeinde Bern befinden. Die Register können bewilligungs- und kostenfrei in den jeweiligen Institutionen eingesehen werden. Die Burgergemeinde Bern veröffentlicht zudem im Fünf-Jahres-Rhythmus ein Burgerbuch mit den Namen aller aktuellen Burger:innen.(10) Die Zivilstandsämter halten hingegen alle Familienregister ab 1928 unter Verschluss. Sie dürfen auch mit Bewilligung nicht eingesehen werden, um den Persönlichkeitsschutz noch lebender Personen zu gewährleisten.
Anders verhält es sich mit den Kirchenbüchern des Kantons Bern (Tauf-, Ehe- und Totenrodel bis 1876). Als Folge der 1979 für erheblich erklärten Motion Meinen lagern diese heute fast ausnahmslos beim Staatsarchiv des Kantons Bern. Seit 2017 können sie als Digitalisate über den Archivkatalog abgerufen werden.(11) Qualitativ unterscheiden sich die Angaben in den Kirchenbüchern und den Burgerrodel nicht. Es erstaunt daher sehr, dass die beiden Quellengattungen eine Ungleichbehandlung erfahren. Zumindest die bewilligungsfrei einsehbaren Burgerrodel bis 1876 könnten ohne Probleme ans Staatsarchiv überführt und als Digitalisate zur Verfügung gestellt werden.(12)
Die Betreuung von Forschenden, welche Einsicht in die beim Zivilstandsamt liegenden Burgerrodel nehmen wollen, ist für die Zivilstandsämter aufwändig. Sie gewähren daher nur an wenigen Halbtagen im Monat einen solchen Zugang. Das schränkt die Möglichkeiten für wissenschaftliche (Familien-)Forschung massiv ein. Dieses Vorgehen ist zwar insofern verständlich, als historische Forschung nicht Kernaufgabe eines Zivilstandsamtes ist. Umso mehr erstaunt es daher, dass diese Aufgabe bis heute bei den Zivilstandsämtern verblieben ist, würde doch mit dem Staatsarchiv des Kantons Bern eine kompetente Stelle bestehen, die die Archivierung dieser historischen Bestände übernehmen könnte und über einen professionell betreuten Lesesaal verfügt. Die Öffnungszeiten des Lesesaals entsprechen dem Nutzungsbedürfnis der Forschenden und erlauben auch Interessierten aus dem Ausland, die Bestände innert nützlicher Frist gebündelt an einem Ort einzusehen. Damit können auch unnötige Reisekosten und Treibhausgasemissionen vermieden werden.
Heute werden Forschenden, die die erwähnten historischen Bestände konsultieren wollen, unnötige Hürden in den Weg gestellt. Es liegt im Interesse des Staates, dass diese Bestände genutzt und bearbeitet, und damit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, statt in einer Archivschachtel zu verstauben. Eine weitere unverständliche Hürde besteht darin, dass die Burgerrodel nicht abfotografiert werden dürfen. Dass Forschende im Jahr 2022 beträchtliche Datenmengen vor Ort von Hand abschreiben müssen, kann nicht im Sinne der kantonalen Digitalisierungsbemühungen sein. Die geltende Regelung, dass Burgerrodel beim Zivilstandsamt gelagert werden, ist historisch gewachsen und entspricht nicht mehr den heutigen Bedürfnissen. Es ist an der Zeit, den Zugang zu den Burgerrodel neu zu organisieren.
Der Regierungsrat wird deshalb gebeten, zu beantworten,
- ob die Burgerrodel bis 1876 analog zu den Kirchenbüchern als Digitalisate im Archivkatalog des Staatsarchivs des Kantons Bern online zur Verfügung gestellt werden können.
- ob die Burgerrodel und Bürgerregister mit einer Blatteröffnung bis 1928 von den kantonalen Zivilstandsämtern ans Staatsarchiv des Kantons Bern überführt und dort bewilligungspflichtig zur Einsicht bereitgestellt werden können.
- ob die Bewilligungspflicht zur Einsichtnahme in diese Register aufgehoben werden kann und welche finanziellen Folgen für den Kanton dies mit sich brächte (Wegfall von Gebühren, aber auch Wegfall administrativen Aufwands).
- wie die gegenwärtigen Hürden für die Einsichtnahme in die beim Zivilstandsamt liegenden Burgerrodel im Sinne der regierungsrätlichen Digitalisierungsbemühungen abgebaut werden.
(1) Paul Martignoni: Zivilstandswesen und Familienforschung am Beispiel des Kantons Bern, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Familienforschung (1986), S. 3-20, S. 8.
(3) Toni Siegenthaler: Das Personenstandsregister. Beurkundung, Verwaltung und Bekanntgabe der Personenstandsdaten, Bern 2013, S. 5. Vgl. auch Anm. 5.
(4) Auszug aus dem Schreiben von Toni Siegenthaler vom 14. Dezember 1999 an den VBBG, gedruckt in: Info-Bulletin, Nr. 3, Februar 2000. Vgl. BSIG Nr. 2/212.121/1.1 vom 06.12.1999, insb. Ziff. 3.6.
(5) Weisungen EAZW, Nr. 10.16.11.01 vom 1. November 2016 (Stand: 1. März 2017).
(6) Weisungen EAZW (Anm. 5), S. 30.
(7) Verordnung über die Organisation und die Aufgaben der Sicherheitsdirektion, https://www.belex.sites.be.ch/frontend/versions/1503.
(8) Merkblatt «Auskünfte aus bernischen Zivilstandsregistern an Forschende», Kapitel 3.1.1, https://www.zivilstand.sid.be.ch/content/dam/zivilstand_sid/dokumente/de/dienstleistungen-de/MB-Familienforschung-de.pdf.
(9) Verordnung über die Gebühren im Zivilstandswesen, https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/490/de.
(10) Dölf Barben: Sensible Daten im Burgerbuch, https://www.derbund.ch/bern/stadt/sensible-daten-im-burgerbuch/story/10048602.
(11) Digital zugängliche Kirchenbücher bis 1875, https://www.staatsarchiv.sta.be.ch/de/start/fuer-private/familienforschung.html.
(12) Art. 92a Abs. 2 ZStV sieht vor, dass die Zivilstandsämter auch elektronische Datenträger oder Mikrofilme anstelle der Papierregister vor Ort verwenden können (vgl. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2004/362/de (Zivilstandsverordnung)). Dies würde eine Ablieferung aller Register bis 1929 ans Staatsarchiv ermöglichen.
Titel: Ein alter Zopf muss weg – Überführung der Burgerrodel ans bernische Staatsarchiv
Art des Vorstosses: Einzelinterpellation
Sprecher: Casimir von Arx
Status der Bearbeitung & version française: siehe Website des Grossen Rates (falls dieser Direktlink nicht mehr funktioniert, bitte direkt auf der Seite des Grossen Rates unter www.gr.be.ch suchen; der Vorstoss trägt in der Systematik des Grossen Rates die Geschäftsnummer «2022.RRGR.265»)