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Es geht um die Wurst – aber um welche?

Halten Sie es für angebracht, dass der Staat einem Tankstellenbetreiber vorschreibt, zu welchen Tageszeiten er welches Wurstsortiment verkaufen darf? Glauben Sie, dass eine solche Vorschrift entscheidenden Einfluss auf Konsum- und Arbeitswelt hat? Dies sind, etwas überspitzt dargestellt, zwei Fragen, mit der sich die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger demnächst beschäftigen müssen. Ein weiteres Thema, über das dem Anschein nach ebenfalls bald ein Urnengang stattfindet, ist die völlige Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls in den letzten Wochen beim Betrachten der öffentlichen Plakatwände und zuweilen auch aus den Medien. Wer aber das Stimmcouvert öffnet und die Titelseite des roten Abstimmungsbüchleins liest, sucht vergebens nach Hinweisen auf Würste und Öffnungszeiten. Diese Ausgangslage mag für Verwirrung sorgen, mit einer strukturierten Analyse lassen sich die Zusammenhänge aber erschliessen:

Am 22. September wird in der Schweiz über eine Revision des Arbeitsgesetzes abgestimmt. Einzige Änderung ist ein neuer Abschnitt in Artikel 27:

Auf Autobahnraststätten und an Hauptverkehrswegen mit starkem Reiseverkehr dürfen in Tankstellenshops, deren Waren- und Dienstleistungsangebot in erster Linie auf die Bedürfnisse der Reisenden ausgerichtet ist, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sonntags und in der Nacht beschäftigt werden.

 

Bei genauem Lesen stellt man fest, dass mit diesem Abschnitt lediglich die Möglichkeit geschaffen wird, in bestimmten Tankstellenshops zu bestimmten Zeiten Personal zu beschäftigen. Naheliegenderweise wird nur dann Personal beschäftigt, wenn der Tankstellenshop geöffnet ist. Dabei unterliegt der Tankstellenshop den gesetzlichen Vorschriften zu den Ladenöffnungszeiten. An diesen wird nichts geändert, sie sind Angelegenheit der Kantone. Ob sich nach Annahme der Gesetzesrevision tatsächlich etwas an den Beschäftigungsmöglichkeiten für Tankstellenpersonal ändert, liegt also in der Hand der Kantone.

Dem Abstimmungsbüchlein sind weitere Hintergrundinformationen zu entnehmen: Bei Tankstellen wird zwischen dem Verkauf von Treibstoff, dem Betreiben von Tankstellenbistros und dem Betreiben von Tankstellenshops unterschieden. Die Beschäftigung von Personal zwecks Verkaufs von Treibstoff und zwecks Betreibens von Tankstellenbistros ist bereits heute rund um die Uhr erlaubt. Ebenfalls bereits erlaubt ist es, dass in «Tankstellenshops auf Autobahnraststätten und an Hauptverkehrswegen mit starkem Reiseverkehr» (siehe oben) von 5 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts Personal beschäftigt wird – auch sonntags. Es geht also um die Lücke zwischen 1 Uhr nachts und 5 Uhr morgens. An den wenigen Tankstellen aber, die dafür in Frage kommen, in dieser Zeit einen Tankstellenshop zu betreiben, dürfte ohnehin schon die ganze Nacht über Personal anwesend sein, und zwar im Tankstellenbistro. Das Bistro und der Shop befinden sich ausserdem in der Regel im selben Raum. Der Shop muss heute einfach zwischendurch geschlossen werden.

Spätestens an dieser Stelle kommt der Verdacht auf, dass wir es hier mit einer unsinnigen Regulierung zu tun haben. Wie unsinnig und kleinlich die Vorschriften tatsächlich sind, zeigt sich in den Unterschieden zwischen den Bistros und den Shops, namentlich beim Sortiment. Im Bistro dürfen nämlich nur Lebensmittel verkauft werden, die zum sofortigen Verzehr geeignet sind. Ganz konkret geht es beispielsweise um die Bratwurst, die das Ja-Komitee zur Illustration in den Mittelpunkt seiner Kampagne gestellt hat. Bratwürste gehören zum Shopsortiment, aber nicht zum Bistrosortiment, denn eine Bratwurst muss man vor dem Verzehr grillieren. Eine Cervalat hingegen kann man auch roh essen. Somit ist der Verkauf von Cervalats in Tankstellen zwischen 1 Uhr nachts und 5 Uhr morgens erlaubt, nicht aber der Verkauf von Bratwürsten. Ein weiteres Beispiel gefällig? Im Shop dürfen tiefgekühlte Pizzen verkauft werden. Im Bistro, wenige Meter entfernt, dürfen dieselben Pizzen auch verkauft werden, allerdings nur aufgebacken. Unübertroffen bleibt aber das Beispiel aus dem folgenden Inserat der Ja-Kampagne: Während es im Shop erlaubt ist, eine Sechserpackung Rivella zu verkaufen, dürfen im Bistro nur Einzelflaschen verkauft werden – aber selbstverständlich auch sechs Stück auf einmal. Entscheidend ist, dass sie nicht durch eine Plastikfolie zusammengehalten werden.

Beispiel für heutige Sortimentvortschriften

In der Praxis bedeuten diese Sortimentsvorschriften, dass das ohnehin anwesende Personal um 1 Uhr nachts jene Artikel absperren oder zudecken muss, die nur im Shop, nicht aber im Bistro verkauft werden dürfen. Für vier Stunden ist der Shop dann «geschlossen», obwohl seine Räumlichkeiten geöffnet, das Verkaufspersonal anwesend und die Shopwaren zum Kauf bereit sind. Um 5 Uhr morgens wird das Prozedere dann jeweils rückgängig gemacht.

Dass hier Abhilfe geschaffen werden muss, ist selbstverständlich. Im Prinzip wäre das auch ohne Weiteres möglich gewesen: die vorliegende Änderung des Arbeitsgesetzes hätte – so wie viele andere Selbstverständlich- und Kleinigkeiten, von denen kaum jemand Kenntnis nimmt – vom Parlament direkt geregelt werden können. Umso mehr mag man sich wundern, warum hierüber eine Volksabstimmung stattfindet. Die Abstimmung wurde von einem Referendumskomitee, der sog. Sonntagsallianz, herbeigeführt. Mein Eindruck ist, dass die Sonntagsallianz hier eine Stellvertreterabstimmung inszeniert hat. Die Sonntagsallianz möchte gemäss ihrer Website den arbeitsfreien Sonntag schützen. Sie möchte, dass die Ladenöffnungszeiten und die Arbeitszeiten nicht weiter ausgedehnt werden. Über diese Forderungen kann man diskutieren. Allerdings geht es bei der Abstimmung vom 22. September – de facto – in erster Linie um Sortimentsbestimmungen und eben nicht um Ladenöffnungszeiten. Dies liegt in der speziellen Sachlage begründet, dass die Ladenöffnungszeiten nach wie vor durch die Kantone festgelegt werden und dass es in jenen Tankstellen, über die abgestimmt wird, in der Regel ohnehin schon ein bedientes Bistro gibt.

Die Nein-Kampagne findet denn auch eher auf symbolischer Ebene statt. Das beginnt schon beim Namen «Sonntagsallianz». Bei der Abstimmung vom 22. September geht es nicht speziell um den Sonntag, sondern um alle Wochentage gleichermassen. Denn schon heute gibt es für die betroffenen Tankstellenshops keine speziellen Sonntagsregeln mehr. Ebenfalls Symbolpolitik ist, dass in der öffentlichen Diskussion über die kommende Abstimmung immer wieder von der «Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten» die Rede, obwohl die Abstimmung rechtlich keinen Einfluss darauf hat, welche Läden wie lange geöffnet sein dürfen. Inwiefern die Gegner des neuen Arbeitsgesetzes hier absichtlich verwirren, sei dahingestellt. Jedenfalls bleibt dieses Verwirrspiel nicht ohne Wirkung, sogar renommierte Medien können sich dem nicht immer entziehen. So berichtete die Tagesschau in ihrer Hauptausgabe vom 31. August, die BDP habe die Ja-Parole zu den «Öffnungszeiten [der] Tankstellenshops» gefasst.

Mit der ständigen Thematisierung der Ladenöffnungszeiten soll der Eindruck vermittelt werden, es gehe um die Wurst – aber eben nicht um die Bratwurst, sondern um die Wurst im übertragenen Sinne. Damit gemeint ist das Szenario einer völligen Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten und der Einführung der 24-Stunden-Shopping- und -Arbeits-Gesellschaft. Bei Lichte besehen, hat der neue Abschnitt im Arbeitsgesetz mit solchen Szenarien wenig bis nichts zu tun. Tatsächliche Abstimmungen über Ladenöffnungszeiten dürften früher oder später kommen. Dann können die gesellschaftspolitischen Fragen diskutiert werden. Am 22. September hingegen geht es um Bürokratieabbau. Wir sollten diese beiden Themen auseinanderhalten.